Höhenfeuer
Fredi M. Murer, Schweiz, 1985o
Der taub geborene «Bueb» und seine Schwester «Belli» leben mit Mutter und Vater auf einem entlegenen Bergbauernhof in der Zentralschweiz. Der Vater leistet der neuen Zeit bewusst Widerstand und lehnt es ab, den Jungen in ein Heim zu bringen. Belli hingegen wäre gerne Lehrerin geworden, muss aber ihren Bruder unterrichten. Die beiden Jugendlichen sind ein unzertrennliches Paar und kommen sich bald gefährlich nahe. – In Umfragen immer wieder zum besten Schweizer Film der Filmgeschichte gewählt.
Seit der Uraufführung und dem Goldenen Leoparden in Locarno 1985 gilt Fredi Murers Familien- und Berglerdrama quasi als die Dufourspitze im gipfelreichen Alpenpanorama des Schweizer Films. Und tatsächlich finden Fabel und dokumentarischer Blick, psychologischer Realismus und bildstarke Lyrik selten so zwanglos zusammen wie hier. Murer vereinigt das Paradoxe souverän, weil er Verständnis für jede seiner Figuren hat: Zärtlichkeit und Härte, Humor und Unnachsichtigkeit, Lächerlichkeit, Tragik und Grösse sind keine Widersprüche, sondern ganz normale menschliche Facetten. Wenn sich das Drama zuletzt in Groteske zuspitzt, so geschieht auch das mit absoluter Folgerichtigkeit.
Andreas FurlerDer Film ist geografisch exakt verortet (ein Hang oberhalb der Gotthardlinie im Kanton Uri), aber er hat die universelle Dimension einer griechischen Tragödie. Und scheint nicht zu altern. Zahlreiche Filmschaffende beziehen sich auf ihn. Zum Beispiel Ursula Meier, die beim Schreiben von «Home» ebenfalls an «Höhenfeuer» dachte. Und die sich in ihrem eigenen Bergfilm «L’enfant d’en haut» an ein Gestaltungsmittel erinnerte, dass auch Fredi M. Murer im besten Schweizer Film konsequent anwandte: Nie die Bergspitzen zeigen, damit es nicht nach Postkartenidylle aussieht. (Auszug)
Matthias LerfL'âme soeur surprend par son audace et sa violence, sidère par l'extraordinaire maîtrise de la mise en scène, réalisation et travail avec des acteurs confondus. Grand, grand film.
Pascal MérigeauL'Ame soeur est une oeuvre étrange et envoûtante, un film à nul autre pareil, sans doute le meilleur jamais réalisé par le cinéaste suisse Fredi Melchior Murer.
Jacques MandelbaumGalerieo
Höhenfeuer gehört zu den mächtigsten Filmen der Schweiz. Wir trafen Regisseur Fredi M. Murer (78) zum Gespräch – hoch oben.
Von unten glänzt der Walensee tiefblau herauf. Oben sitzen wir mit Fredi M. Murer auf der Terrasse des Rössli. Er sei in der Gegend, um im Heimetli seiner Tochter die Haustiere zu hüten. Der Regisseur von Höhenfeuer als Kleintier-Heger und -Pfleger? Links und rechts ragen Neubauten aus Holz und Glas in die Gegend, als gälte es, die Berggipfel zu konkurrenzieren. Der nahe Sessellift dreht an diesem Nachmittag ohne Publikum.
Wo beginnen bei einem Regisseur, der sich nach fünfzig Jahren angeblich endgültig aus der Filmszene zurückgezogen hat? Und der nun in Locarno einen Ehrenleopard fürs Lebenswerk erhält? «Jäähhh, ich hätte besser absagen sollen», sagt der 78-Jährige, «öffentliche Auftritte liegen mir zunehmend auf dem Magen.» Dann bestellt er sich einen Espresso, deutet auf das Kafirähmli und lässt es blitzschnell in seiner Hand verschwinden. Hokuspokus.
Ja, so hätte sein Leben auch aussehen können. Als Zauberkünstler. Oder als Zeichner, Naturforscher, Architekt. «Das alles konnte ich mir vorstellen.» Wobei Murer als Jugendlicher sogar als Kunstturner-Nachwuchshoffnung von Jack Günthard, dem Olympiasieger am Reck, ins Sportzentrum Magglingen geholt wurde. Heute kokettiert Murer: «Wahrscheinlich meinte ich, Kunstturnen käme von Kunst.»
Was vom Sport blieb, ist immerhin die Bezeichnung «kultureller Zehnkämpfer», mit der sich der Regisseur identifiziert. «Ich war vielseitig begabt, aber auf keinem Gebiet so gut, dass es zum Spitzenathleten gereicht hätte.» Von daher schien es folgerichtig, auf den Film zu setzen, eine Mehrkampfdisziplin, die von der Projektentwicklung – Drehbuch, Finanzierung – über die eigentlichen Dreharbeiten bis zur Postproduktion mit Vertonung und Schnitt verschiedene Phasen beinhaltet.
Prägend waren in der Jugend ein Comic (Tim und Struppi) und zwei Kinoerlebnisse: Als 11-Jähriger sah Fredi, der in Nidwalden als jüngstes von sechs Geschwistern geboren wurde und im Kanton Uri aufwuchs, The Kid von Charlie Chaplin. «Ich identifizierte mich total mit diesem Outlaw, trug drei Tage eine schiefe Dächlikappe und schwänzte die Schule.» Mit 20 sah er im Kunstgewerbemuseum Zürich Nanook of the North von Robert Flaherty und beschloss: «Solche Filme, in denen reale Menschen inszeniert werden, will ich auch drehen.»
Engagement, Gelassenheit, Ausdauer
Wenn Murer erzählt, spürt man Engagement, Gelassenheit und Ausdauer. Und wenn er mal ausholt, braucht man nicht viel zu fragen, die Bonmots kommen von alleine. Aber manchmal, da sagt er mitten im Satz: «Das ist auch noch interessant.» Dann öffnet sich ein neues Fenster, zum Beispiel über die künstlerische Aufbruchstimmung in den Sechzigerjahren. Murer wechselte damals in der Kunstgewerbeschule Zürich vom Wissenschaftlichen Zeichnen zur Fotografie, der Direktor bewilligte ihm extra eine Federmotor-Kamera, eine Filmausbildung gab es damals noch nicht. Was es gab, waren Filme von Kurt Früh und Franz Schnyder, mit denen er sich nicht identifizieren konnte.
Stattdessen flog er aus, zum Beispiel zum Experimentalfestival in Knokke-le-Zoute in Belgien. «Polanski, Godard, Warhol, alle waren sie da. Im Foyer des Festivalzentrums bestellte eine unsichtbare Performerin unter einem schwarzen Tuch einen Espresso – es war Yoko Ono, die damals noch niemand kannte.» Murer schmunzelt, und da drückt sie durch, diese verschmitzte Liebe zur Kunst, die bei ihm immer wieder zu spüren ist.
1964 kam dann der erste Grossauftrag: Dia-Grossprojektionen für die Expo in Lausanne über Schulwesen und Erziehung. «Ausgerechnet», meint Murer, aber es brachte gutes Geld. Und da er mitunter auch als Architekturfotograf arbeitete, konnte er es sich leisten, renommierten Werbeagenturen abzusagen – einmal gar mit den Worten: «Es tut mir leid, aber ich habe jetzt keine Zeit, um Geld zu verdienen.»
Bald darauf zeigte Murer Pazifik, einen Film über die damalige Zürcher Künstlerkolonie, an den ersten Solothurner Filmtagen. Der spätere Filmchef des Bundes Alex Bänninger, damals noch Jus-Student und Aushilfskritiker, bezeichnete das Werk als «abendfüllend und kinoleerend». Immerhin gestand Bänninger dem Jungfilmer «möglicherweise Talent» zu und unterstützte ihn beim Einfordern einer «Qualitätsprämie des Bundes für wertvolle Filme» von 10'000 Franken.
Nach weiteren experimentellen Werken (unter anderem dem Science-Fiction-Kurzfilm 2069 mit HR Giger) verschlug es Murer nach London. Dort traf er auf die Tochter seines Film-Übervaters Robert Flaherty und plante mit ihr einen Film über den Verbleib jener Nanook-Eskimos, die ihr Vater inszeniert hatte. Aber dann traf die Nachricht vom Tod des eigenen Vaters ein. Ein Schock. Das sehnlichst erhoffte Gespräch auf Augenhöhe war nicht mehr möglich.
Murer reiste zurück ins Urnerland und erfuhr an der Beerdigung, dass sein Vater für schreibunkundige Bergbauern regelmässig Briefe und Gesuche verfasst hatte. Um mehr über seinen Vater zu erfahren, besucht er diese in ihren «Heimetli» und war fasziniert von dieser archaischen Lebensweise: «Ich entdeckte eine mir völlig unbekannte Welt und war begeistert von ihrer Erzählfreude.» Worauf er beschloss, «einen Film über meine eigenen Eskimos in den Urner Bergen zu drehen».
Der Film hiess «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind». Der Aufwand: 12 Stunden 16mm-Film während allen vier Jahreszeiten. Das Konzept: kein Kommentar, nichts Folkloristisches, sondern den Bauern das Wort geben. Das Resultat: ein Dokumentarfilm-Klassiker des Neuen Schweizer Films.
Allerdings sollte es nochmals fast zehn Jahre dauern, bis seine ethnografischen Recherchen über die realistische Alltagswelt der Bauern in einen Spielfilm einflossen: Höhenfeuer, eine antike Inzesttragödie, ein zeitloses Drama, ein Meilenstein des Schweizer Films. Murer selbst sagt: «Diese künstlerische Strenge, Radikalität und Reduktion habe ich bei keinem anderen Film zustande gebracht.»
Eingeschmuggelt im Schauspieler-Workshop
Zuvor habe er allerdings lernen müssen, wie man mit Schauspielern umgeht. So habe er sich einmal mit einer fiktiven Schauspieler-Biografie in einen Actors-Studio-Workshop in Berlin eingeschmuggelt. Dann schickte er seine jungen Schauspieler in den Landdienst, damit sie mit Sensen und Mähmaschinen umzugehen lernten. Er liess seine Protagonisten mit verbundenen Augen den künftigen Drehort, ein 300-jähriges Walserhaus, ertasten. Und als der Ausstatter die Steinmannli-Skulpturen des gehörlosen «Bub» auf der Alp aus Styropor erstellen wollte, habe er die Bauern am Stammtisch damit beauftragt, sich in ihre Bubenzeit zurückzuversetzen. «Was dabei entstanden ist, war ein Meisterwerk.»
Es ist jener Moment über dem Walensee, der Murer sichtlich nahegeht. Man sieht kurz die Tränen in seinen Augen, und man hört ihn sagen: «Danach hätte ich eigentlich aufhören können.» Zwei Knie-, eine Hüftoperation und einige Eingriffe in der Herzgegend später hat er nun tatsächlich aufgehört. «Einige meiner Filmerfreunde, mit denen ich eine Autorengemeinschaft bildete, haben das Set bereits verlassen.» Sein ständiger Kameramann Pio Corradi ist Anfang 2019 gestorben.
Das Universelle im eigenen Dorf
Wie aber kam es, dass auf Höhenfeuer keine internationale Filmkarriere folgte? Der Film wurde unter anderem in Japan, woher der Regisseur viel Inspiration bezog, zum Kulthit. Murer liefert verschiedene Antworten. Einerseits: «Hollywood hat mich nie interessiert.» Andererseits: «Im Ausland wäre ich immer nur Gast gewesen. Xavier Koller versuchte das, und seine Filme haben ja stets eine gewisse Weltkino-Grandezza. Ich bin eher der Kleinräumige, der das Universelle im eigenen Dorf zu entdecken versucht. Und daheim kann ich motzen, wenn mir etwas nicht passt.»
Murer nippt am Espresso, der nach zwei Stunden immer noch halbvoll ist. «Klar, nach ‹Höhenfeuer› hatte ich internationale Angebote, und meine Freunde fragten: Warum machst du das nicht? Aber dann las ich in der Zeitung, dass die Nagra im Wellenberg in meinem Heimatkanton Nidwalden ein Atom-Endlager bauen will. Da war mir klar, dass ich diesen Menschen eine Stimme geben muss.»
Das war 1990, sein zweistündiger Film Der grüne Berg traf den Nerv der Zeit und setzte sich durch: gegen den Widerstand der Nagra, gegen die Vorbehalte des Schweizer Fernsehens, aber mit Support des damaligen Energieministers Adolf Ogi, der sich für die Ausstrahlung einsetzte. «Da ist wohl der Bergler in ihm hervorgekommen», meint Murer. Die Initiative «Stopp dem Atomkraftwerkbau» wurde dann mit 54 Prozent angenommen. «Ich bilde mir heute noch ein, dass dabei mein Film das Zünglein an der Waage gespielt hat.»
Wie aber kommt es, dass einer der grössten Schweizer Regisseure heute keiner mehr sein will? Die Antwort lässt sich erahnen, wenn man sich die langen Pausen zwischen Murers Filmen vergegenwärtigt. Er selbst sagt: «Die Begutachterei-Methoden der Fördergremien fiel mir immer mehr zur Last.» Für Höhenfeuer habe damals eine Erzählung von 15 Seiten genügt. Inzwischen seien die 100-seitigen Begleitdossiers matchentscheidender als die Drehbücher. Und dass ein Röstigraben-übergreifendes Episodenfilmprojekt vom Bund mit einem einzigen Satz abgeschmettert wurde, habe ihn getroffen.
«Ich bin ein guter Händeler»
Da spürt man eine gewisse Frustration, gerade weil der Regisseur oft auch sein eigener Produzent war und viel privates Geld auftrieb. «Ich bin ein guter Händeler», sagt Murer. Im Fall von Vitus («eine Hommage an jenes Wunderkind, das ich nie geworden bin») waren das immerhin 1,5 Millionen Franken.
«Habe ich zu viel geredet?» Murer trinkt aus. Der Sessellift dreht weiter. Unten glänzt der Walensee im tiefsten Blau. Der letzte Film? «Ja, das war ‹Liebe und Zufall›», bekräftigt Murer. Auch schon wieder fünf Jahre her.
«Das ist vielleicht auch noch interessant: Der Film basiert auf einem Roman meiner Mutter.» Ein Erbe, von dem der Regisseur lange nichts wusste. «Sie war Damenschneiderin und eine grosse Leserin, und als sie mir erklärte, dass Romane erfundene Geschichten seien, war ich entsetzt, dass man 300 Seiten lang lügen kann.» Darauf bekam er als Zweitklässler eine Kinderbibel geschenkt («darin ist alles wahr», hiess es), also musste er dann den Pfarrer im Religionsunterricht fragen: «Wie konnte sich denn die Menschheit fortpflanzen, wenn Adam und Eva nur zwei Söhne hatten?» Zurückblickend verdanke er dem Faustschlag des Pfarrers in sein Kindergesicht, dass er schon relativ früh realisierte, dass Darwin keine Romane geschrieben habe.