Schellen-Ursli
Xavier Koller, Schweiz, 2015o
Verfilmung des gleichnamigen Kinderbuchs von Selina Chönz und Alois Carigiet: Zu Urslis Leidwesen hat er für den „Chalandamarz“ – dem Fest, an dem der Winter von den Dorfbuben mit lautem Glockengeläut vertrieben wird – das kleinste Glöckchen zugeteilt bekommen. Deswegen wird er als „Schellen- Ursli“ verlacht. Aus Wut über diese Schmach beschliesst er, das Unmögliche zu wagen: Er will mitten im Winter, bei Schnee und Eis, Nacht und Nebel, die grosse Kuhglocke im Maiensäss holen. Der Aufstieg wird zum spannenden Abenteuer, bei dem er manch bedrohlicher Gefahr ausgesetzt ist.
Von wegen: Früher war alles besser! Der neue Schellen-Ursli besticht nicht nur mit dem spitzbübischen Charme des Kinderbuch-Klassikers. Der Film bietet darüber hinaus auch noch eine gesunde Portion Sozialkritik. Uorsin akzeptiert es nicht, als Schellen-Ursli gehänselt zu werden, nur weil seiner Familie das Geld für eine grössere Glocke fehlt. Im Grunde geht es hier also um die Weigerung eines stolzen Knaben, ein gesellschaftlicher Underdog zu sein. Hauptdarsteller Jonas Hartmann – der Sohn einer Bündnerin und eines Kurden – verkörpert diese Rolle perfekt. Der Zwölfjährige schwingt sich unter Xavier Kollers Fittichen zum grossen Sympathieträger für Kinder auf. Ein Schellen-Ursli frei vom Mief der Geistigen Landesverteidigung, der dem 1945 erschienenen Bilderbuch bis heute anhaftet.
Selim PetersenDas nostalgische Kind in uns war ja ein bisschen misstrauisch. Es bestand jedoch gar kein Grund: Kollers Film hat Wärme und Schwung und bewahrt in seinen Bildern viel vom zeichnerischen Charme des Originals. Und nun läuft der Film schon ein Jahr in unseren Kinos. Herzliche Gratulation!
Christoph SchneiderWunderschön sind die Schweizer Berge und herzig die Abenteuer des Ziegenhirten Schellen-Ursli (Jonas Hartmann). Xavier Koller filmt die legendäre Kindergeschichte wie eine Premium-Tour durch das Heimatkundemuseum. Alles Augenmerk gilt detailgenau rekonstruierten Kostümen und Kulissen aus Uromas Zeiten, sodass die Story vom gefahrvollen Leben in den Bergen (Lawinen, Wölfe, fieser Nachbarsjunge) in Postkartenbildern verpufft.
Rainer GanseraGalerieo
Xavier Kollers Umsetzung des Kinderbuchklassikers ist heute der Presse vorgestellt worden – sie bietet Wölfe, Ziegen und zahlreiche Erinnerungen.
Schellen-Ursli – wer erinnert sich nicht? – geht doch so: Der Bündner Bub hat eine zu kleine Glocke. Unter Lebensgefahr kämpft er sich hoch ins Maiensäss, wo eine grosse hängt. Dort übernachtet er, beschützt von Tieren. Die Eltern unten im Tal machen sich Sorgen. Aber am nächsten Tag ist er zurück, rechtzeitig zum Chalandamarz-Umzug, an dem der Winter ausgeläutet wird. Ende. Das ist viel als Bilderbuch, der Klassiker von Selina Chönz (Text) und Alois Carigiet (Illustrationen) erschien 1945 und steht bis heute in der Deutschschweiz in praktisch jedem Kinderzimmer. Aber es ist zu wenig als Film. Schellen-Ursli bekommt es deshalb auf der Leinwand mit einem raffgierigen Ladenbesitzer, einer herzigen Ziege und einem veritablen Wolf zu tun. Und das funktioniert gut.Realisiert wurde der Film von Xavier Koller (71), der als Regisseur zuletzt ein Abonnement auf Urschweizer Stoffe hat. Sein Schellen-Ursli trifft den Ton besser als die letzten Filme, er ist weniger kitschig als Die schwarzen Brüder und geradliniger erzählt als der Dällebach Kari. Kinder, und auch ihre Eltern, werden Freude haben, wenn der Film am 15. Oktober in den Kinos startet.
1964 gab es schon einen Kurzfilm
Genau genommen ist es nicht der erste Leinwand-Ursli. 1964 produzierte die Zürcher Condor Films einen 19-minütigen Kurzfilm nach dem Kinderbuch. Das war eine Auftragsarbeit des Verkehrsvereins Graubünden, der damit Werbung für die Schönheit des Engadins machen wollte. Auch die neue Version wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung aus Graubünden. Die Finanzierung des 5,6-Millionen-Franken-Projektes erwies sich als schwierig, ausserhalb der Deutschschweiz ist der Schellen-Ursli nahezu unbekannt.Also ja, die Schönheit des Engadins wird auch in dieser Version gepriesen. Hei, wie stiebt der Schnee in der Sonne, wie sind die Dörfer schmuck, die Schluchten tief. Aber es passt bestens in die Geschichte, die von drei Kindern getragen wird: Jonas Hartmann ist der Uorsin (wie Ursli im Original heisst), Julia Jeker seine Freundin Seraina und Laurin Michael der Widersacher Roman. Die Erwachsenen stehen nicht hintenan: Marcus Signer, eben noch der Berner «Goalie» in der Pedro-Lenz-Verfilmung, gibt den Vater mit veritablem Bündner Akzent. Und Leonardo Nigro spielt einen rothaarigen Bösewicht mit Genuss. Dazu sind Bündner Urgesteine wie Andrea Zogg und Tonia Maria Zindel zu sehen.
Erinnerungsblitze an das Kinderbuch
Das ist gut, aber das wirklich Bestechende am Film ist, wie die Zeichnungen von Alois Carigiet integriert werden: Da ist die Holztür aus dem Ursli-Haus, dort der schmale Steg über die Schlucht, hier die Marroni mit Nidle als Festessen. Das sind Erinnerungsblitze an das Buch – und damit an die eigene Kindheit. Die Kamera- und die Dekorationsabteilung haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Und die Erzählung findet das richtige Tempo.Apropos Tempo. Schellen-Ursli wird sich sputen müssen, wenn er Mitte Oktober ins Kino kommt. Denn schon im Dezember bekommt er Konkurrenz aus dem eigenen Land. Dann startet die neue Version von Heidi. Wetten, dass es darin auch herzige Ziegen geben wird?