Iraqi Odyssey
Samir, Schweiz, Deutschland, Irak, 2015o
Bomben, kaputte Städte, wütende bärtige Männer, verschleierte schluchzende Frauen: der Irak von heute. Dagegen stehen Bilder der 50er und 60er Jahre: Filme mit frivoler Musik, westlich gekleidete Frauen die studieren, elegant gekleidete Männer in Baghdad, einer modernen Stadt. Wie konnte es soweit kommen? Der im Irak geborene Schweizer Regisseur Samir erzählt die Geschichte seiner Familie, die über fast alle Kontinente verstreut ist und stellvertretend steht für das Schicksal des irakischen Mittelstandes seit mehreren Generationen.
Samir legt Schicht über Schicht in diesem so persönlichen wie staunenswerten Dokumentarfilm über Iraker in der Diaspora, die von kommunistischem Engagement erzählen, von Flucht und Folter und dem Terror des Baath-Regimes. Es ist ein Erinnerungsbild, in dem sich die Dokumente in sympathisch gebastelter 3-D-Technik zwei- und dreifach überlagern und eingefärbt werden von Samirs Kommentar. Manchmal wäre man nicht unfroh, er würde auf die Seite gehen, damit man den Film sehen kann, und überhaupt ist es paradox, wie Samir noch in seiner Ungeduld weitschweifig werden kann. Aber immer wieder zieht er verblüffende Linien zwischen Land und Leuten und weitet sein Familienalbum zu einem packenden Stück Kultur- und Zeitgeschichte.
Pascal BlumRegisseur Samir lässt seine ziemlich großartige Verwandtschaft zu Wort kommen. Sein Film ist politische Chronik und Porträt einer außergewöhnlichen und doch wieder modellhaften Familie, ein gemischter Clan aus Sunniten und Schiiten, der stellvertretend für ein ganzes Volk das bewegte, oft tragische Schicksal seines Landes durchlebt. Am Ende ist die Familie in alle Winde zerstreut. "Iraqi Odyssey" bietet Einsichten über Fluchtursachen und Rückkehrbereitschaft von Flüchtlingen: Alle Interviewpartner hängen leidenschaftlich an ihrer Heimat. Der Irak mag gerade nicht sehr stabil aussehen - die Iraker aber sind unzerstörbar.
Sonja ZekriGalerieo
Kolonialistische Demütigung, Revolution, Diaspora – der Zürcher Regisseur Samir verwebt im Dokumentarfilm «Iraqi Odyssey» die herzzerreissende Familiensaga mit blutiger Weltgeschichte.
Man hat die Bilder von «American Sniper» noch im Kopf: ein guter Amerikaner auf einem Dach, den Finger am Abzug seines Gewehrs, das Auge am Zielfernrohr und im Fadenkreuz ein Bub mit einer Panzerfaust oder ein bärtiger Schlächter, der einem Kind das Knie mit einem Schlagbohrer zertrümmert. Und das ist (bei Clint Eastwood): der Irak.
Womöglich hat man noch anderes im Kopf, die Namen Bagdad, Basra und Samarra, die früher einmal nach Märchen klangen – nach Aladin und Ali Baba und der Macht der Abassiden, vielleicht sogar nach dem Geografen Mercator aus dem 16. Jahrhundert, der auf seiner Paradieskarte behauptete, Gottes Garten Eden liege unweit nördlich von Bagdad. Auch das ist der Irak.
Dazwischen aber liegt eine Wirklichkeit und eine Geschichte, die man, eurozentrisch, wie man denkt, kaum im Kopf hat, und das ist ebenfalls der Irak. Der Regisseur Samir, schweizerischer Iraker und irakischer Schweizer, geboren 1955 in Bagdad, erzählt davon in seinem neuen Dokumentarfilm «Iraqi Odyssey», einer – seiner – «Familiensaga», die sich vom Irakischen ins Weltläufige weitet, von den Details der Erinnerungen zur Allgemeinheit einer Sehnsucht (oder zum grossen Pessimismus) und von individuellen Lebenskapriolen zum historisch Exemplarischen.
Die Familie läuft in alle Messer
Denn Samirs Familie, die es sich nicht ausgesucht hat, exemplarisch zu werden, umspannt heute tatsächlich die Welt. Der Stammbaum väterlicherseits ist ein üppig verästeltes Gewächs; an ihm hing viel Stoff für eine Erzählung erlebter odysseeischer Leben. Es spiegelt sich in der Familie Jamal Aldin, die vom Propheten Mohammed abstammen soll, irakische Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihren dramatisch schillernden Farbvaleurs: kolonialistische Demütigung unter britischer Herrschaft, Revolution und optimistischer Aufbruch in eine liberale Moderne, Gegenrevolution und Elend der Diktatur, lange Kriegstragödien, kurze Friedenspausen, Emigration und arabische Diaspora.
Eine sehr persönliche filmische Geschichtsschreibung. Es floss gewissermassen verwandtschaftliches Herzblut. Die Zeugen, die Samir aufbot, sind Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, auch eine junge Halbschwester. Nicht alle kommen im Film zu Wort, die dramaturgische Ökonomie setzte sich da Grenzen, klugerweise. Sie haben es erlebt, wie ihnen ein Land oder ihr engagierter Traum davon abhandenkam. Wie sie als Angehörige eines rebellischen, gebildeten irakischen Mittelstandes in alle Messer liefen, als Kommunisten im Kalten Krieg, als Kommunisten und Demokraten unter der Diktatur von Saddam Hussein, als Skeptiker unter Dogmatikern oder einfach nur als studierte Frauen. Davon berichten sie, «westlich» geworden in der Fremde, fremd geworden in der Heimat, aber immer noch trauernd um eine verlorene Schönheit des Ostens zwischen Euphrat und Tigris.
Eine Widmung an die Tochter
«Iraqi Odyssey», ein langer, anstrengender, wortreicher Film, betont seine Vielschichtigkeit und Tiefenschärfe durch die 3-D-Technik. Eine akzeptable ästhetische Entscheidung. Die Dreidimensionalität kann einen Zuschauer allerdings etwas wirblig machen bei der Decodierung anspruchsvoller, sich überlagernder Bild-, Schrift- und Wortebenen. Am Ende jedoch ist das eine Frage der persönlichen Konzentrationsfähigkeit und der Antipathie gegen 3-D-Brillen. Also: geschenkt.
Das alles ist klug gedacht, auch in der feinen Sentimentalität, mit welcher der Regisseur Samir sich selbst zum Zeugen macht. Er hat seine Kindheitserinnerung an die Palmenhaine Bagdads und an den freigeistigen Grossvater seiner Tochter gewidmet, die noch nicht alt genug ist, dass irakische Geschichte ihr Hauptinteresse sein könnte. Aber wahrscheinlich gilt ihr der schöne Satz am Ende des Films: dass ein Mädchen vielleicht jetzt schon verstehen könne, warum der Vater so gern Wassermelonen esse und Auberginen liebe.